„Bei dieser Freiheit geht es nicht nur um Schönheit
und Würde, sondern auch um Gesundheit und Überleben.“
Interview mit Zhu
Jing
Flohmarkt auf der
Museumsinse
l am Wochenende, Foto: Zhu Ji
ng
Im Rahmen des
Residenzprogramms, organisiert vom Goethe-Institut China, der Abteilung für
Interkulturelle Germanistik der Universität Göttingen und dem Fachbereich
Germanistik der Nanjing Universität, verbrachte die Schriftstellerin Zhu Jing
im Sommer 2023 einen Kurzaufenthalt in Göttingen. In einem Interview mit dem
Goethe-Institut schildert Zhu Jing ihre Beweggründe für die Teilnahme am
Residenzprogramm, ihre Eindrücke aus Deutschland sowie die Gedanken und
Inspirationen, die sie aus dem Austausch dort gewonnen hat.
Was hat dich dazu
motiviert, an einem Residenzprogramm in Deutschland teilzunehmen?
Ich begann mit
zwanzig mit dem Schreiben und gründete mit sechsundzwanzig eine Familie. Als
ich mit fünfunddreißig wieder mit dem Schreiben begann, war meine Tochter
bereits vier Jahre alt. Als es mir als intellektueller Frau möglich wurde, aus
dem Familienleben auszusteigen, stellte sich mir die Frage nach dem „wie weit“.
Mit diesem „wie weit kann ich gehen“ wollte ich austesten, ob die Vitalität,
der Intellekt und die Kreativität meiner Jugend durch dieses lange Sorgen für
die Familie verloren gegangen waren oder ob sie noch immer funktionieren.
Dass
ich 2019 an die Waseda-Universität ging und 2023 an einem Residenzprogramm
teilnahm, hat mit dieser Entscheidung zu tun. Als ich 2023 an dem deutschen
Residenzprogramm teilnahm, besuchte eine Freundin, mit der ich mich in jungen
Jahren gemeinsam dem Schreiben gewidmet hatte, mit ihrem kleinen Sohn die
Universität München. Das war eine große Ermutigung und Hilfe für mich, und
insofern war es eine glückliche Fügung, dass ich in diesem Sommer für den
Aufenthalt nach Deutschland kam.
Was war dein
erstaunlichstes Erlebnis in Deutschland?
Ich gehöre der Generation an, die in den
1980er Jahren geboren wurde und in ihren Zwanzigern den Jahrtausendwechsel und
das Aufkommen des Internets miterlebt hat. Wir leben in einer Welt, die von
Geschwindigkeit und Technologie geprägt ist, und folgen alle einem kapitalistischen
Lebensstil. Moderne Städte können Weltreisende kaum noch überraschen. Aus
diesem Grund kam ich ohne spezielle Vorbereitung nach Deutschland, ich hatte
nur mein Handgepäck mit dem Allernotwendigsten dabei.
An meinem dritten
Tag in Deutschland fuhr ich nach Berlin. Auf der Suche nach der Berliner Mauer
kam ich an Straßen und Gebäuden vorbei, die früher zu Ostdeutschland gehört
hatten, wodurch ich intuitiv verstand, wie Planung, Layout und Einrichtung als
eine Form der Raumproduktion den Alltag gestalten können, indem sie die
alltägliche Umgebung umformen. Während meines Aufenthalts in Berlin wurde am 8.
Juni um 19 Uhr die neue Ausstellung „Velvet Rage and Beauty“ von Andy Warhol in
der Neuen Nationalgalerie in Berlin eröffnet. Bereits um 18.30 Uhr reichte die
Schlange der auf die Eröffnung Wartenden bis zu den Stufen des Platzes.
Die
Ausstellung war inhaltlich sehr stark, offen, zerstörerisch und eindringlich,
aber auch kreativ und künstlerisch intuitiv.
Wenn Minderheiten Reichtum und
Macht erlangen, indem sie ihre natürlichen Talente und sogar ihren Ehrgeiz zur
Schau stellen, so ist das auch eine Möglichkeit, die Situation in einer
komplexen Situation zu verändern. Das war das erste Mal, dass Berlin mich
wirklich überrascht hat.
Die ersten
bewegenden Eindrücke von Deutschland waren für mich die wunderschönen
Landschaften auf der Zugfahrt von Frankfurt nach Göttingen. Zwei Wochen nach
meiner Ankunft in Deutschland reiste ich nach Amsterdam. Dabei wurde ich erneut
an diese deutschen Landschaften erinnert, die ich am Beginn meines Aufenthalts
gesehen hatte, nämlich, als ich im niederländischen Nationalmuseum eine Reihe
niederländischer naturalistischer Landschaftsmalereien aus dem 17. Jahrhundert
sah.
Eine goldene Sommersonne scheint auf die üppigen Felder, der Himmel
verändert sich ständig, die Wolken ziehen vorbei und das Licht verwandelt sich,
um neue Landschaften zu hervorzubringen. Die Erde, die Bäume, die
Beschaffenheit der Wolken – all das zeigt die Schönheit unseres Alltags.
Ganz
gleich, wie sich die Welt verändert, die Beziehung zwischen Zivilisation und
Natur birgt eine transzendente, ewige Notwendigkeit.
Was ist deine
deutsche Lieblingsspeise? Warum?
Die
meiste Zeit während meines Aufenthalts in Göttingen habe ich, außer auf Reisen,
selbst gekocht. Auf Einladung von Barbara Dengel von der Universität Göttingen
und einigen Studenten habe ich indisches, persisches, vietnamesisches und
natürlich deutsches Essen probiert. Es fällt mir schwer, sie alle zu benennen,
und wenn ich die Speisekarten mithilfe einer Software übersetze, gibt sie nur
die Zutaten der Gerichte an.
Welcher Moment
während deines Aufenthalts in Deutschland hat dich bei deiner Arbeit als
Künstlerin besonders inspiriert?
Dank der einfühlsamen und
geduldigen Arbeit von Barbara Dengel an der Universität Göttingen hatte ich die
Gelegenheit, mit der Schriftstellerin Daniela Dröscher zu sprechen und Ideen
auszutauschen. Wir beschäftigen uns beide mit Themen wie die Familie in der
heutigen Zeit oder die Realität der Situation der Frauen. Daniela Dröschers
jüngster Roman „Lügen über meine Mutter“ zum Beispiel ist aus der Sicht eines
Kindes geschrieben und thematisiert Ehe und Mutterschaft. Viele Passagen
erinnerten mich an meinen Roman „Solch eine schöne Nacht“aus dem Jahr 2019.
Wir beide konzentrieren uns auf
gewisse Dinge, die uns wichtig sind. Am Abend unseres Gesprächs vom 8. Juli
bezog ich mich auf einen Satz aus Marguerite Duras’ „Das tägliche Leben“ („La
vie matérielle“), nach dem eine Frau ihr Haus wie eine Utopie
einrichtet. Sie könne nicht anders, als so zu handeln, wobei sie nicht das
Glück an sich nutze, sondern die Suche nach dem Glück, um die ihr liebsten
Menschen für sich einzunehmen.
Damit versucht sie zu zeigen, dass das
Verständnis von Heimat bei Frauen sowohl komplex als auch individuell ist.
Daniela Löscher sagt, dieser Text sei auch ihr Lieblingstext. Diese Begegnung
ist überraschend. Die Einblicke in die dunklen Orte von Familie und engen
Beziehungen beruhen nicht unbedingt auf Unzufriedenheit, sondern vielleicht auf
viel stärkeren Überzeugungen.
Austausch mit Daniela Dröscher
in Göttingen
In diesem Sommer wird in mehreren deutschen Städten eine Theateradaption
von Daniela Dröschers Roman „Lügen über meine Mutter“ aufgeführt, und eine
Ankündigung enthält folgende zwei Zeilen: „Als Kind dachte ich, meine Mutter
sei die schönste Frau der Welt“ und „Ich schäme mich für meine Mutter! – Ich
habe meine Mutter mit den Augen meines Vaters betrachtet“.
Meine Mutter konnte
deshalb von der schönsten Frau zu einer Frau werden, für die ich mich schämte,
weil „ich“ sie mit den Augen meines Vaters sah, das heißt mit den Augen einer
Gesellschaft, die den Frauen lange Zeit Vorschriften machte und Anforderungen
an sie stellte. Wie man gesehen wird, ist entscheidend.
Frauen, die die längste
Zeit nur als ästhetische Objekte aus männlicher Sicht existiert haben, können
nur dann frei von ihrem Körper sein, wenn sie selbst die Macht haben, ihn zu
definieren und zu bestimmen. Und bei dieser Freiheit geht es nicht nur um
Schönheit und Würde, sondern auch um Gesundheit und Überleben. Diese
Überlegungen führten zur Konzeption meines neuen Romans.
Ausstellung
„Unendliche Landschaften“, Foto: Zhu Jing
Welchen Ort in
Deutschland würdest du deinem*r Nachfolger*in unbedingt empfehlen?
Am
dritten Tag nach meiner Ankunft in Deutschland fuhr ich nach Berlin. Eigentlich
hatte ich noch nicht einmal den Jetlag überwunden, ich war durcheinander, und
mein Reiseplan war es auch. Ich sah Caspar David Friedrichs Sonderausstellung
„Unendliche Landschaften“ in der Alten Nationalgalerie in Berlin. In einem
Gespräch mit Barbara Dengel versuchten wir, einige seiner Pinselstriche mit
denen von Chen Hongshou zu vergleichen, einem chinesischen Maler aus dem 17.
Jahrhundert: Die Art und Weise der „Verformung“ eines realen Dinges erfolgt
nach dem Gefühl und dem Willen des Malers.
Da die Reise nach Berlin nicht wirklich
geplant war, verbrachte ich zwar vier Tage und drei Nächte in der Stadt, fand
aber leider keine Zeit, die Berliner Galerien richtig zu besichtigen. In
Wirklichkeit rechtfertigt allein schon die Attraktivität der Sammlungen eine
weitere Reise nach Berlin. Das ist ein Reiseziel, das ich nachfolgenden
Schriftsteller*innen-in-Residence empfehlen würde.
Inwieweit hat das Residenzprogramm
deine Vorstellung von Deutschland verändert?
Mein Residenzaufenthalt
in Deutschland fand genau während der Fußball-Europameisterschaft statt. Das
war nicht neu für mich, mein Wissen über Fußball verdanke ich meinem Mann. An
den Wochenenden gab es Public Viewings der Spiele im Freien, die Menschen saßen
gemütlich bei kühlen Getränken zusammen und feierten die Spiele. Meinem Mann
hätte das sicher sehr gefallen, wenn er nur hätte hier sein können.
Er war
früher bei der Bahn tätig und arbeitete eng mit deutschen Unternehmen zusammen.
In der Tat habe ich Deutschland als Land sehr lieb gewonnen. Ich habe während
dieses kurzen Aufenthalts auch eine ganze Menge an Wohlwollen erfahren.
Welche Gewohnheit
oder Idee aus Deutschland würdest du gerne in China übernehmen?
Ein gemütlicher
Wochenendnachmittag im Freien. An Samstagen nehmen in Göttingen die Tische und
Stühle der Restaurants und Cafés im Freien die Hälfte des Straßenraums der
Innenstadt ein. Dieser Bereich ist dann für Autos und Fahrräder gesperrt und
gehört ganz den Menschen, die sich im Freien aufhalten wollen.